Wie entsteht Borderline

Hintergrund – Neurobiologische Aspekte

Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass unter anderem eine gewisse biologische Veranlagung anfällig für die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung machen. Es ist beispielsweise bekannt, dass die neurobiologischen Systeme, die für die Regulation gefühlsmäßiger Reaktionen zuständig sind, bei Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung dahingehend verändert sind, dass sie intensivere emotionale Reaktionen auf gleichförmige Reize produzieren. Diese Reize bilden sich langsamer auf das (ebenfalls erhöhte) Ausgangsniveau an emotionaler Erregung als bei Menschen, die nicht an einer Borderline-Störung leiden.

Jedoch haben mehrere Studien belegt (Koenigsberg, Siever 2001), dass sowohl bei Borderline-Patienten als auch bei Patienten mit anderen Persönlichkeitsstörungen eine verminderte Gesamtaktivität des serotogenen Systems besteht. Hier ist zu erwähnen, dass eine Verbindung zwischen dem serotogenen System und impulsiver Aggression, sowohl Aggressionen gegen sich selbst, wie zum Beispiel selbstverletzendes Verhalten (SVV) und Suizidversuche als auch Fremdaggressionen wie Wutausbrüche oder Gewalt, besteht. Ferner wurde nachgewiesen das die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus, die  zwei zusammenwirkende Funktionseinheiten des limbischen Systems bilden und einen zentralen Teil des stressverarbeitenden Systems und des Traumagedächtnisses darstellen, bei Borderline-Persönlichkeitsstörung-Patienten degeneriert beziehungsweise übererregbar sind (Bohus 2004), (Heller und Van der Kolk).

Die neurobiologischen Degenerationen bei Borderline-Patienten sind identisch wie bei Patienten mit komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen – Bohus, Heller, Van der Kolk

Entstehung durch Trauma

Die Gründe für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind zu meist in der Kindheit zu finden. Hier spielen auch früh erlebte massive psychische oder physische Gewalt, wie zum Beispiel emotionale Vernachlässigung, andauernde Gewalterfahrungen, Todesangst, emotionaler Missbrauch, sexueller Missbrauch und schwere körperliche Misshandlungen, eine Rolle.

75 bis 90 Prozent der Borderline-Persönlichkeitsstörung-Patienten geben an, schwere Traumata erlitten zu haben, dabei am häufigsten sexuelle und/oder körperliche Misshandlungen in der Kindheit. – Bohus, Unckel 2005, Herman 1992

Als Folge von wiederholten Traumatisierungen können zum Beispiel folgende Störungsbilder entstehen, die eine breite Überschneidung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen und in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme beschrieben sind. Das ICD ist das weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.

  • Die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1 – Abk.: PTBS; engl.: Posttraumatic Stress Disorder, Abk.: PTSD).  Einer PTBS gehen definitionsgemäß ein oder mehrere belastende Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß (Trauma) voran.Die diagnostischen Kriterien der PTBS konzentrierten sich auf Symptome, die bei Kriegsteilnehmern beobachtet worden waren und eigneten sich nicht dazu, auch die Störungsbilder zu beschreiben, die bei missbrauchten Kindern beobachtet werden konnten.
  • Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) (F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung) ist ein psychisches Krankheitsbild , das sich infolge schwerer, anhaltender Traumatisierungen (z. B. Misshandlungen oder sexueller Missbrauch, Kriegserfahrung, Folter, Naturkatastrophen, physische und/ oder emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, existenzbedrohende Lebensereignisse) entwickeln kann. Im Unterschied zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist es durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen gekennzeichnet, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben. Der Begriff Komplexe PTBS (engl. Complex PTSD, C-PTSD) wurde für dieses Krankheitsbild erst 1992 durch die amerikanische Psychiaterin Judith Herman eingeführt und ist im deutschen Sprachraum bislang noch nicht vollständig etabliert.

Durch Traumatisierungen können zusätzlich weitere Traumafolgestörungen entstehen, z.B.: depressive Störungen, Angsterkrankungen, chronische Schmerzstörungen, somatoforme Störungsbilder, dissoziative Störungsbilder, Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen.

Entstehung durch gestörte Bezugsperson-Kind-Beziehung

Objektbeziehungstheorie

Die gängigen Entwicklungstheorien der Borderline-Persönlichkeitsstörung konzentrieren sich besonders auf die empfindliche Interaktion zwischen Kind und Bezugspersonen während der ersten Lebensmonate. Hier wird dem Alter zwischen 18 Monaten und 30 Monaten besondere Bedeutung geschenkt. Es wird vermutet, das entweder eine zu fürsorgliche Haltung der Bezugspersonen, die die Versuche des Kindes sich zu lösen, unterdrücken oder eine emotionale Vernachlässigung dazu führen, dass das Kind kein positives, stabiles Ich-Gefühl entwickelt. Hieraus entsteht ein ständiges, intensives Bedürfnis nach Bindung und das chronische Gefühl, verlassen zu werden.

Oft fehlt die Vaterfigur in den Beziehungen oder weist eine psychische Störung auf. Ferner ist häufig zu beobachten, dass die Mutterfiguren zu Launenhaftigkeit und Depressionen neigen und selbst unter psychischen Erkrankungen leiden. Für den familiären Hintergrund der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind Gewalt, Alkoholismus, feindliche und konfliktbeladene Beziehungen zwischen Bezugsperson und Kind und interfamiliär typisch.

Besondere Aufmerksamkeit bei der Entstehung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung möchte ich der Objektbeziehungstheorie nach Melanie Klein und dem Entwicklungsmodell nach Margaret Mahler widmen und einige Aspekte kurz anreißen.

Die Objektbeziehungen werden vor allem in ihrer Funktion gesehen, die Entwicklung des Ich und der psychischen Unabhängigkeit zu ermöglichen.  Fehlt eine konstante Objektbeziehung in der frühkindlichen Entwicklung, ist der Mensch demnach nicht in der Lage, eine Übertragungsbeziehung aufzubauen, mit der in der Psychoanalyse gearbeitet werden kann. Hier ist eine Nachreifung indiziert und eine stützende und strukturgebende Haltung des Therapeuten erforderlich.

Melanie Klein lenkte die Aufmerksamkeit der Psychoanalyse auf die frühkindliche Entwicklung und die Auswirkungen der frühen Beziehungen zu Bezugspersonen. Interessant ist hier Melanie Kleins objekttheoretischer Ansatz, der zur Schlussfolgerung kommt, dass die Art und Weise, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt und mit welchen Erwartungen er an sie herantritt, durch seine Beziehungen zu wichtigen frühen Bezugspersonen („Objekten“) geprägt wird. Diese Bezugspersonen können nach dem Prinzip der Idealisierung und Entwertung, entweder geliebt oder gehasst werden. Eben diese Idealisierung und Entwertung, die Liebe, die plötzlich in Hass umschlägt und das Schwarz-Weiß-Denken sind die klassischen Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Es ist anzunehmen, dass eine frühkindliche Fehlbindung zu wichtigen Bezugspersonen den Grundstein für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung legen kann.

Die Übungsphase (11.-18. Monat) nach Margaret Mahler ist oft die glücklichste Phase der Kleinkindzeit. Das Kind freut sich über die Welt und die wachsenden Fähigkeiten. Bei einem günstigen Verlauf wird hier der Grundstein für eine starke Frustrationstoleranz gegenüber Verlust und Schmerz gelegt. Die Rolle der Mutter ist insbesondere in dieser Phase sehr wichtig. Die Mutter soll das Kind einerseits ermutigen, seine Umwelt zu erkunden, andererseits für das Kind bei der Rückkehr seiner Erkundungen präsent sein, um die Emotionen aufzufüllen und dem Kind die Bildung eines Sicherheitsgefühl zu ermöglichen.

Faktoren die eine Entstehung von Borderline begünstigen

  • vorgeburtliche Erfahrungen (Traumata)
  • erlebte Traumata
  • Erhebliche Probleme im sozialen Umfeld und zu wichtigen Bezugspersonen in der frühen Lebensphase. Die spätere Beziehungsgestaltung wird in großen Bereichen in der ersten nachgeburtlichen Lebensphase festgelegt (Objektbeziehungstheorie)
  • körperlicher und/oder sexueller Missbrauch

Borderliner haben das, was zu einem gesunden Aufwachsen gehört um eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln zu können, in weiten Teilen nicht erlebt.

 

Thomas Voiß
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